Auf welche Irrwege uns die Ambivalenz von Leistung führt

7. November 2018

Leistung ist sowohl ein Wertmaßstab, den andere in Form einer Leistungserwartung an uns anlegen, als auch etwas zutiefst Individuelles, das nur wir vor uns selbst erbringen können.
Nina Verheyen gibt uns mit „Die Erfindung der Leistung“ zugleich einen strukturellen und einen zeitlichen Überblick über den Leistungsbegriff, der erstaunlich vielschichtig ist – das Ganze angereichert mit kurzweiligen Geschichten.

Leistung als Gesellschaftsfaktor

So ist der Leistungsdruck in der Schule schon vor 150 Jahren ein Thema gewesen, wobei zu dieser Zeit die Leistung eines Menschen noch von dessen Unterstützung und Mitwirken in der Gesellschaft geprägt war. Bereits damals war Leistung also eine Bewertung, die andere über uns trafen. Vor über 100 Jahren ging es aber nicht so sehr um die individuelle Leistung, sondern eben um den Beitrag zur Gesellschaft.
Von einem nicht unbedingt transparenten Werturteil haben wir Leistung dann immer weiter zu einer zählbaren und messbaren Größe gemacht: Über Schulnoten, Arbeitszeugnisse, Sportwettkämpfe bis zu Auszeichnungen wie dem Nobelpreis haben wir Leistung greifbar und zählbar gemacht.

Leistungsmaßstab Geld

Und der Wertmaßstab, auf den alles hinausläuft, ist Geld als ultimativer Maßstab für ökonomische Leistung.
Diese Entwicklung sollten wir nicht einseitig verteufeln, denn mit dieser Transparenz ist etwas verbunden, das wir als Gesellschaft heute anstreben und wertschätzen: Die Durchlässigkeit der Gesellschaft gegenüber Standesdenken und Handeln. Nur in einem transparenten Leistungssystem kann sich ein Individuum unabhängig von seinem sozialen Ursprung weiter entwickeln. Dieses Konzept nutzten schon die Kaiserdynastien in China, indem sie kaiserliche Beamte in den Provinzen über ein Prüfungssystem aussiebten. Damit gab es keine Möglichkeit, über den sozialen Stand direkt aufgenommen zu werden.
Erzeugt also gesellschaftliche Transparenz Leistungsdruck? Oder bedeutet dieser Aspekt vor allem, dass jeder von uns, der über einen anderen urteilt, sich genau im Klaren darüber sein sollte, was in diesem Urteil für eine Verantwortung gegenüber dem Beurteilten und der Gesellschaft als Ganzes liegt? Urteile fällt jeder von uns, nicht nur als Lehrer oder Vorgesetzter, sondern auch als Taxi-Fahrgast in Form von Trinkgeld, als Kunde an der Kasse, oder in einem Ausschuss oder Verein bei der Abstimmung über Aktivitäten.

Maßstab mit Lücken

In der physikalischen Welt ist Leistung gleich Arbeit pro Zeit, hat also direkt etwas mit Effizienz zu tun. Auch dieser Einfluss auf den Leistungsbegriff ist immer deutlicher zu spüren und zwar wenn wir einfach nur den Output von zwei Menschen miteinander vergleichen und diese absolute Zahl unabhängig von den Fähigkeiten einer Person zum Maßstab machen.
Hier hat mir der Hinweis auf Menschen mit Handicap gefehlt. Sie haben von vorneherein andere Voraussetzungen, aber entweder beurteilen wir diese Menschen mit denselben Maßstäben oder nehmen sie ganz aus jedem Vergleich heraus. Und das, obwohl sie eigentlich eine individuelle Beurteilung ihrer Leistung wünschen und benötigen.
[selectivetweet]Bewertungsmaßstab, Gesellschaftsfaktor, Effizienzmesser – wie betrachten wir Leistung?[/selectivetweet]

Rückbesinnung auf Vieldeutigkeit

Übrig bleibt die Frage, warum wir Leistung nicht mehr als etwas sehen, das von einem Team erreicht wird. Auch der Individualsportler oder der bekannte Autor kann auf ein Team im Hintergrund zurückgreifen und hat die Leistung nie ohne die Unterstützung anderer erreicht.
Vielleicht müssen wir wieder mehr Vieldeutigkeit zulassen und den Begriff der Leistung aus dem Bereich des Zählbaren und Vergleichbaren herausziehen. Dann wird aus schulischer Leistung vielleicht wieder ein Streben nach Bildung; Bildung als Vervollkommnung eines unscharfen Ganzen, ohne Teilbereiche zu vernachlässigen. Und Arbeit wird vielleicht wieder zu etwas Unscharfem wie Ordnung, Fleiß oder Sparsamkeit – also Mittelmäßigkeit oder Maß halten.
Die wenig positive Veränderung des Leistungsbegriffes hat wahrscheinlich mit unserer immer stärkeren Fokussierung auf das Individuum zu tun. Wir haben in unserer westlichen Kultur (anders als die Chinesen) das Individuum in den Mittelpunkt gestellt. Und dabei übertreiben wir an der einen oder anderen Stelle. Genau das spiegelt uns dieser Diskurs von Nina Verheyen über Leistung wider.
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Nina Verheyen
Die Erfindung der Leistung
Hanser Berlin, 256 Seiten, 23,00 Euro
Kindle Edition 16,99 Euro

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