Digitale Werkzeuge: die Zerlegung des Menschen und die Folgen für unsere Autonomie

11. Juli 2018

Langsam wird es Zeit, dass wir uns als Menschen darüber klar werden, was uns wirklich ausmacht. Denn nur, wenn wir uns davon (vorher) eine Vorstellung machen, können wir überhaupt eine Entscheidung treffen, wo und wie wir welcher Technologie in Zukunft Grenzen setzen wollen. Bisher nimmt uns jedes Stückchen Technologie ein kleines Stück von dem, was uns Menschen charakterisiert, weg und löst das Menschsein damit irgendwann auf.

Die Entwicklung der Abhängigkeit

Angefangen hat es mit einfachen handwerklichen Werkzeugen. Ein Messer, eine Säge oder ein Hammer sind erst einmal einfach nur nützlich und erweitern unsere Möglichkeiten. Aber sobald wir uns an die Verfügbarkeit der Werkzeuge gewöhnt haben, schaffen sie eine Abhängigkeit.

Dann haben wir ganze Tätigkeiten an Haustiere wie Pferde oder Ochsen übertragen. Das Ziehen von Ackerfurchen gehörte auf einmal nicht mehr zum Menschsein dazu.

Einen richtigen Schub hat dann die erste Industrialisierung gebracht. Gleichzeitig hat die Auslagerung an Maschinen aber auch zu einer Entfremdung von der Arbeit und zu einer Mechanisierung der menschlichen Tätigkeiten geführt. Nicht nur haben wir unsere Arbeit an Maschinen abgegeben, wir haben sie auch unter deren Effizienzaspekten strukturiert, damit wir Menschen die Tätigkeiten zwischen zwei Maschinen-Tätigkeiten übernehmen konnten.

Mit der Gründung von Gewerkschaften haben wir als Gesellschaft auf die Missstände des frühen Industrie-Kapitalismus reagiert. So waren bis in die 1990er Jahre Gewerkschaften dafür zuständig, eine Balance zwischen menschlichen Arbeitsbedingungen, Entlohnung und maschineller Effizienz herzustellen.

Digitale Werkzeuge

Durch die Digitalisierung fangen wir jetzt wieder an, unsere Tätigkeiten an Maschinen auszulagern – nur dass es sich dieses Mal nicht um körperliche Arbeit, sondern um Tätigkeiten unseres Gehirns handelt. Unter dem Diktat der Nützlichkeit von Werkzeugen bietet uns die Tech-Industrie Dienste wie kleine Nachrichten, soziale Verbindungen oder die Suche nach Inhalten – digitale Werkzeuge. Das ist erst einmal so harmlos und einleuchtend wie die Werkzeuge aus der realen Welt.

Unser Gehirn im Fadenkreuz

Da wir mit dem Verständnis unseres menschlichen Gehirns noch ziemlich am Anfang stehen, können wir auch bei einfachen digitalen Werkzeugen bisher nicht überblicken, wie diese sich auf unser Hirn, unser Menschsein und unsere Autonomie auswirken werden.

Über Filterblasen durch eingeschränkte Informations-Angebote ist bereits viel diskutiert worden. Der bisher systematischste digitale Angriff auf unser Hirn ist die Ausnutzung unserer Schwäche zur Steuerung der Aufmerksamkeit: Mit kleinen Plings und Plongs oder perfekt designten Spielen wird unsere Aufmerksamkeit in digitalen Welten gefangen. Die Designer der Algorithmen spielen mit uns und machen sich unsere Schwächen der Reizverarbeitung zu Nutze.

Ein Angriff auf einen anderen Teil unseres Hirns ist das Nudging. Hier geht es darum, unsere Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Das ist zwar nicht auf die digitale Welt beschränkt, durch die einfache Personalisierung von digitalen Übertragungs-Kanälen sind die Möglichkeiten für die digitale Welt jedoch exponentiell gestiegen.

Die Überlagerung zweier (Informations-)Welten

Innerhalb von 10 Jahren haben wir uns daran gewöhnt, per Smartphone immer und überall mit der virtuellen Welt verbunden zu sein und das Gerät zum technischen Zugang und Gatekeeper für unseren Medienkonsum (Fernsehen, Radio, Zeitungen, Bücher) und unsere sozialen Interaktionen (Chat, Email, soziale Netzwerke) zu machen.

Es ist unschwer vorauszusehen, dass wir diese Schnittstelle des Lesens und Wischens immer effizienter machen wollen. Sprachassistenten sind ein klarer Hinweis. In den Laboren wird an neuen Möglichkeiten geforscht, unser Hirn direkt mit dem Netz zu verbinden. Auch wenn uns dies aus heutiger Sicht unendlich weit entfernt erscheint, so werden wir innerhalb der nächsten wenigen Jahrzehnte in kleinen aber doch rasanten Schritten eben daran gewöhnt werden.

VR-/AR-Brillen sind ein erster Bote für die Überlagerung oder den Ersatz von künstlichen Informationen und der Realität, die wir nicht mehr werden unterscheiden können.

Wie entwickelt sich unser Bewusstsein in der digitalen Welt?

Was geschieht dann mit unserem Bewusstsein? Heute stellt es die Verbindung zwischen der Wahrnehmung der realen Welt und unserem Hirn dar. Aber was ist Bewusstsein, wenn die Übermittlung der äußeren Reize (Sehen, Hören, Tasten) über eine virtuelle Welt erzeugt wird? Was ist uns dann wirklich noch bewusst? Welche Lebenserfahrung eint uns dann noch?

Was passiert mit unserer Selbstreflexion, die auf unserem Bewusstsein aufbaut? Wo und wie können wir uns als Individuum verorten und verankern, wenn unsere Erfahrung und Wahrnehmung von Umwelt personalisiert ist?

Was geschieht mit unserer Identität? Heute ist es für einen gesunden Menschen unabdingbar, in verschiedene Rollen/Identitäten hereinzuschlüpfen (Vater/Mutter, Ehemann/-frau, ArbeitskollegIn, Kumpel). In gewissen Grenzen dürfen und müssen wir uns in den verschiedenen Rollen anders verhalten. In der digitalen Welt haben wir nur noch eine Identität. Wie wird uns diese konsistente Version des Ichs einschränken? Wie wird es uns mit einem konsistenten Ich ergehen?

Was werden wir noch frei entscheiden können? Was ist überhaupt freie Entscheidung, wenn wir kein Vertrauen mehr in gleiche und kohärente Interaktion mit physischen Objekten haben können, weil Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Bewusstsein und Identität digital geprägt sind?

Oder definieren wir Menschsein in Zukunft über den dorsomedialen frontalen Kortex? Diese noch ziemlich junge Region in unserem Hirn überprüft heute unsere Handlungen und Entscheidungen, bevor wir die Steuerbefehle an Muskeln übertragen. Wir könnten uns einfach auf den Standpunkt stellen, dass dieses Areal in unserem Hirn es schon richten und all das Rauschen und die Fehlinformationen herausfiltern muss, bevor wir als Mensch eine rationale Entscheidung fällen. Der Mensch als idealer Homo Ökonomicus? Wohl eher eine Utopie.

Wann überschreiten wir die Grenze?

An welchem Punkt genau, werden wir also unsere menschliche Autonomie verlieren und unser Menschsein selber auflösen? Es ist auf jeden Fall an der Zeit, sich in größerem Umfang als bisher mit diesen Fragen systematisch zu beschäftigen und Regeln aufzustellen, die wir als Gesellschaft nicht überschreiten wollen.

Es sind nicht immer nur fremde Mächte mit Kapitalinteressen, die die Grenzen ein wenig weiter verrücken wollen. Wir Menschen mit unserer Neugierde, Bequemlichkeit und unserem eigenen Interesse uns immer weiter selbst zu vermessen und zu quantifizieren, schieben uns unaufhaltsam über die Grenze, die wir wahrscheinlich nicht queren sollten.

So wie die Gewerkschaften (Labour Unions) eine Vereinigung von abhängig Beschäftigten zur Vertretung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen ist, so benötigen wir in Zukunft Vereinigungen, die sich um unsere Privatheit und unsere sozialen und kulturellen Interessen in der digitalen Welt kümmern (Privacy & Human Unions).

Wir sind gefordert

Ein wenig Energie und Interesse ist dazu schon erforderlich. Die Verweigerungshaltung gegenüber der digitalen Realität nützt uns auch nichts. Wir stehen an einem spannenden Punkt in der Entwicklung der Menschheit mit vielen neuen Möglichkeiten, die Technologie uns bietet.

Aber wir dürfen uns nicht auf Verbraucherschutz oder andere staatliche Kontrollorgane verlassen. Denn es geht um unsere Autonomie als menschliches Individuum. Es geht um Lebensqualität, um soziale Interaktion und Kultur. Das können wir nicht einfach dem Staat übertragen und uns zur Ruhe setzen.

Wir alle sind gefordert, die digitale Welt von morgen aktiv mit zu gestalten!

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