Welches Selbstverständnis ermöglicht uns ein Überleben im digitalen Zeitalter?

22. August 2018

Unser menschliches Selbstverständnis wird stark von unserer Beziehung zu unseren technischen Werkzeugen und Maschinen bestimmt. Im Laufe der Jahrhunderte ist es uns technisch gelungen, immer mehr Teilaspekte des menschlichen Handelns und Denkens an Maschinen auszulagern. Damit wird der Raum, in dem wir uns autonom und selbstbestimmt gegenüber den Maschinen behaupten können, immer enger.

Aber es geht ja nicht nur um die Frage unserer Autonomie. Vielleicht ist die freie Entscheidung und Autonomie ja nur eine von vielen Lebensutopien, die wir uns in den letzten Jahrhunderten gegeben haben, um uns gegen was auch immer abzugrenzen.

Was macht uns Menschen (wirklich) aus?

In der Bibel war es (noch) einfach: Der Mensch als Krönung der Schöpfung. Alle Menschen sind gleich und stehen über den anderen Lebewesen. „Macht Euch die Erde untertan“, heißt es im Buch Genesis.
Die Römer haben uns dann gelehrt, wie man mit einem partizipativen Gesellschaftssystem unter teilweiser Einbindung breiter Gesellschaftsschichten und einem Aufstiegssystem  für mehrere Jahrhunderte erfolgreich eine Gesellschaft organisieren kann, bevor das Ganze in Macht-Selbsterhaltung und Tyrannei unterging.

Das Mittelalter hat im Westen dann ein lang anhaltendes Unterdrückungssystem etabliert, das schließlich durch die Aufklärung beendet werden konnte. (Die vielen mittelalterlichen Vorstellungen zur Frage, was den Menschen ausmacht, ersparen wir uns hier.)

Der zentrale Gedanke der Aufklärung ist neben dem Leitsatz der französischen Revolution das Selbstverständnis Descartes‘: „Cogito ergo sum“. Nicht mehr der göttliche Auftrag, sondern unsere Fähigkeit zu denken macht uns von allen anderen Lebewesen unterscheidbar und auf der anderen Seite zu allen anderen Menschen gleich. So gleich, dass kein Fürst das Recht hat, über einen anderen Menschen zu bestimmen oder zu richten. Jedes menschliche Individuum gibt einen Teil seiner Autonomie an „den Staat“ ab, damit dieser in der Lage ist, eine Gesellschaft partizipativ (z.B. mit der Demokratie) zu führen.

Unser Selbstbild auf wissenschaftlicher Grundlage

Im 19. und 20. Jahrhundert haben wir dann eine Reihe wissenschaftlicher Konzepte entwickelt, über die wir unser menschliches Selbstbild zu definieren versucht haben:

  • Bewusstsein: Der Mensch definiert sich in diesem Bild nicht einfach nur über seine Möglichkeit zu denken, sein Selbstbild wird erst möglich durch die Anbindung seines Denkapparates an die physische Umwelt. Ohne die Körperlichkeit und die Interaktion mit der Umwelt ist demnach kein Bewusstsein möglich. Körperliche Erfahrungen gehören also zu unserem Prozess des Bewusstseins.
  • Freier Wille: Durch unser Denken und unser Bewusstsein sind wir Menschen in der Lage freie Entscheidungen zu fällen. Als Individuum handeln wir autonom und frei.

Mussten wir uns bisher mit unserem Selbstbild gegenüber anderen Lebewesen abgrenzen, oder auf andere Menschen zugehen, müssen wir uns heute mit unserem menschlichen Selbstbild vor allem gegenüber immer intelligenter erscheinenden Maschinen abgrenzen und behaupten.

Freier Wille in Gefahr

Der freie Wille als Konzept wird vor allem durch die Hirnforschung in Frage gestellt: Gibt es einen einzigen Ort, an dem wir eine Entscheidung fällen? Oder gibt es für verschiedene Fragestellungen und emotionale Zustände unterschiedliche Orte in unserem Gehirn, in denen mehr oder weniger freie Entscheidungen von Stoffwechselprozessen vorbereitet und gefällt werden, die wir im Nachhinein nur noch logisch erklären und als unsere Entscheidungen verkaufen?

Aber auch die digitale Welt mit Nudging und Aufmerksamkeits-Konzepten nagt an unserem freien Willen. Und: Konnten wir uns vor einigen Jahren noch keine Maschine vorstellen, die ein Bewusstsein erlangen kann, weil ihr schlicht die notwendigen körperlichen Sensoren fehlten, so ist uns inzwischen klar, dass Maschinen in einer vernetzten Welt vielfältigen Zugriff auf einfache Parameter wie Temperatur oder Geschwindigkeit, aber auch auf Emotionen und Absichten haben.

Wenn Bewusstsein und freier Wille keine ausreichende Unterscheidbarkeit zu Maschinen schafft, sind es dann vielleicht unsere subjektiven Erlebnisse und Erinnerungen, die uns als Menschen auszeichnen? Die Schnipsel aus unserer Kindheit, die damit verbundenen Gefühle, unser Lernen in der Schule, Liebe, Erfolg, Scheitern? Aber wehe, wir können diesen Blechbüchsen irgendwann einmal Erinnerungen mitgeben…

Ambiguität macht den Unterschied

Ein wahnsinnig aufregendes Lebenskonzept, um uns Menschen zu definieren und auch von Computern unterscheidbar zu machen, ist unsere Fähigkeit mit vieldeutigen Situationen umzugehen. Thomas Bauer hat dieses Konzept der Ambiguität als lohnendes Ziel für unser Menschsein näher beschrieben.

Ambiguität lebt in Kultur, Musik oder Kunst. Ambiguität ist erstmal etwas, das (zumindest aktuell) nicht durch mathematische Modelle abgebildet werden kann. Vielleicht sollten wir wieder mehr Wert auf echte Bildung und Vielfalt legen, anstatt Menschen maschinengleich auf ihren Job vorzubereiten.

Oder können wir uns gegen die Blechkisten im Grunde viel einfacher abgrenzen? Eigentlich sollte jede Handlung, die wir als Mensch vornehmen, das Ziel haben uns glücklicher und zufriedener zu machen. Warum handeln Maschinen? Bestimmt nicht, um glücklicher zu werden.

Wir brauchen jedenfalls ein menschliches Selbstbild für die digitale Zeit, das uns nicht in den Wettbewerb zu Maschinen bringt und das allen Menschen klar macht, was uns als Individuen jenseits des Zählens und Messens ausmacht.

Quelle: https://pixabay.com/photos/pedestrians-people-busy-movement-400811/
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