Wie Google und Facebook unsere persönliche Freiheit zerstören

7. Oktober 2020

Oder: Die dunkle Seite der Wissenschaft in unserer vernetzten digitalen Welt

Seit Francis Bacon sagen wir: Wissen ist Macht. Damit drücken wir den Geist der Aufklärung aus, der Vernunft und rationales Denken als Motor für den Fortschritt zur Grundlage der Überlegenheit der Menschen über alle anderen Lebewesen und unsere Umwelt stellt.

Und es ist genau die Idee der Aufklärung im 18. Jahrhundert, dass wissenschaftlich gewonnenes Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt wird. So sind unsere Universitäten als Orte der Produktion dieses Wissens ein wichtiger Baustein der Aufklärung.

Denn die Grundidee der Aufklärung ist die Vermehrung der persönlichen Handlungsfreiheit des Einzelnen (Emanzipation) durch Bildung, Bürgerrechte und die allgemeinen Menschenrechte.

In der Aufklärung geht es um frei verfügbares Wissen (Bildung), welches uns – allen Menschen als Gruppe – die Macht über die Umwelt verleiht. Genau dieses frei verfügbare Wissen ermöglicht uns im Gedanken der Aufklärung die Freiheit über die Dinge, über die wir etwas wissen. Es gibt uns die Freiheit, aber eben auch die Macht.

In dieser Welt des „wir“ (also aller Menschen) sind Wissen und Freiheit uneingeschränkt positiv konnotiert und bedingen einander.

Die Verfeinerung des wissenschaftlichen Fokus

Über die Jahrhunderte hinweg hat sich der Fokus von Wissenschaft immer weiter verfeinert. Hat sich Galilei zu Beginn des 17. Jahrhundert noch mit den Gesetzmäßigkeiten der Sterne beschäftigt und das Fallen von Äpfeln untersucht, so standen für Wissenschaftler wie Bohr und Planck im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts Atome und subatomare Strukturen im Fokus der Betrachtung. Auf einmal ging es nicht mehr um die Beschreibung einfacher Zusammenhänge und kausalem „actio gleich reactio“, sondern um Statistik und Wahrscheinlichkeiten. Die Beschreibung eines einzelnen Atoms gelang nur noch mit Aufenthaltswahrscheinlichkeiten und Experimente gelangen nur noch durch die Beobachtung von vielen Tausenden oder Millionen von Ereignissen. Das einzelne Atom war der Wissenschaft egal.

Auch die Biologie lässt sich in dieses Bild einfügen. Wir Menschen haben keinerlei Zweifel, dass wir den Untersuchungsgegenstand Pflanze und Tier beherrschen und damit uneingeschränkte Macht über Pflanzen und Tiere haben. Auch die Rechtswissenschaft ist diesem Gedanken gefolgt, als sie Tiere zu Sachen gemacht hat und damit das Sachenrecht auf sie anwendbar ist. Man kann Eigentum erwerben an jedem biologischen Geschöpf außer an einem anderen Menschen.

Die Medizin war schon immer an der Grenze zwischen Macht, Wissenschaft und Freiheit unterwegs und hat daraus ein komplexes, sich ständig veränderndes ethisches Informations-Verarbeitungsgebäude errichtet. Die Grenze, was wir aus Tests an Menschen an Wissen sammeln dürfen und können, verschiebt sich von Jahr zu Jahr.

Wissen – Freiheit – Macht und Wissenschaft

Die Freiheit und Macht-Beziehung von Wissen ist in dieser Welt noch intakt. Wir Menschen als Gruppe erforschen die Welt, sammeln Wissen und haben Macht über das, was wir untersuchen. Wir teilen Wissen mit anderen Wissenschaftlern, um unsere Macht über die Umwelt zu vergrößern.

Wissen ist das einzige, das durch Teilen mit anderen mehr wird. Dieser Informations-Verarbeitungs-Logik liegt der Aufklärungsgedanke der Bildung zugrunde. Wissen, welches über die Allgemeinheit finanziert von der Wissenschaft gewonnen wird, steht allen zur Verfügung. Solches Wissen im richtigen Kontext zwischen Individuen geteilt, schafft neues Wissen. Das ist der Freiheits-Begriff hinter Wissen.

Für nicht frei zugängliches, geheimes oder vertrauliches Wissen sieht es indes ganz anders aus: Hier wird Wissen gegen Geld getauscht, akkumuliert und in Macht transformiert. Aber auch diese Konzepte sind dem Militär, Feldherren und Herrschern schon seit Jahrtausenden bekannt und existieren damit deutlich vor unserer digitalen Welt.

Doch die Erhöhung der Verarbeitungsgeschwindigkeit und die zunehmende Informations-Menge durch digitale Technologien verschieben die über Jahrhunderte aufgebaute Balance zwischen Wissen, Freiheit und Macht.

Der Einfluss der Verhaltenswissenschaft

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben Wissenschaftler versucht, den Gruppen-Begriff von Wissenschaft zu verändern. Eine Gruppe von Menschen hat andere Menschen „untersucht“ und bewertet. Heute ist klar, dass dies keine Wissenschaft war und ist.

In den 50er Jahren des 20. Jahrhundert hat B.F. Skinner die heutige Verhaltenswissenschaft nachhaltig geprägt und damit wissenschaftlich etabliert, dass Menschen (Individuen) andere Menschen (Individuen) spezifisch untersuchen, klassifizieren und beurteilen.

Wir haben damit vor 70 Jahren klar die Grenze überschritten, dass wir Menschen auch uns selbst untersuchen, also Gesetzmäßigkeiten zu unserem Handeln erforschen. Es ist wesentlich, zu verstehen, dass ein Mediziner Zellen oder andere Funktionen und Teile des Menschen untersucht und die Autonomie und Freiheit des Individuums unangetastet lässt. Auch die Testung von Medikamenten an Individuen überschreitet diese Schwelle nicht.

Erst die wissenschaftliche Untersuchung des Verhaltens macht einzelne Menschen – die Probanden – zur Umwelt. Und alle anderen nutzen das gewonnene Wissen und die damit verbundene Macht. Konkret haben die Werbeindustrie, das Militär und auch die Politik – bzw. die Menschen und Interessengruppen dahinter – ein großes Interesse am Wissen über Verhalten.

Der Einwand lautet jetzt, dass die Probanden nach dem Experiment ja wieder in die „normale“ Welt hüpfen und Teil der Wissenschaft, der Gesellschaft werden und dieses Wissen selbst auch nutzen können. Ja, das stimmt. Und daher ist bis in die 1990er Jahre die Welt der Macht, des Wissens und der Freiheit auch noch in Ordnung.

Eine neue Dimension der Datensammlung

Aber wo stehen wir heute in der digitalen Welt von Google und Facebook?

Jeder Click, jedes Cookie, jeder Messwert unserer Wearables misst Zustände von Individuen. Daraus fertigen Wissenschaftler bei Google und Facebook und vielen anderen Unternehmen wissenschaftliche Modelle. Diese Modelle machen das Verhalten ganzer Gruppen für uns vorhersehbar, aber auch das Verhalten einzelner Personen.

Die Politik nutzt diese wissenschaftliche Macht der Daten zur Beeinflussung von Wahlen (übrigens vor Trump auch schon Obama), und die Wirtschaft nutzt diese Macht, um unser Kaufverhalten zu beeinflussen. Dabei geht es nicht mehr um die richtige Werbung am richtigen Ort, sondern es geht um die Manipulation unseres Handelns.

Die Daten werden nicht gesammelt und anonymisiert wie in einer wissenschaftlichen Studie. Wir Internetnutzer sind die Probanden. Das Gleichgewicht von Wir, Wissen, Macht und Umwelt ist zerstört.

Einige wenige sammeln die Daten, bauen die Modelle. Wir sind dabei die Umwelt, die Probanden. Das damit gewonnene Wissen wird nicht verallgemeinert, sondern steht dem jeweiligen Datensammler wie Google oder Facebook einseitig und ausschließlich zur Verfügung. Die über uns gesammelten Daten und die damit verbundene Macht wird gegen uns verwendet. Es ist individuelles Wissen über uns, das jemand anderem Macht über unser Verhalten verleiht. Es ist damit Macht über uns in den Händen anderer. Und diese schränkt unsere Freiheit ein und erhöht die Freiheit der Datensammler und Wissenden.

Gezielte Manipulation

Der übliche Einwand ist, dass man ja nichts zu verbergen habe und jeder selbst schuld sei, wenn er auf die Werbung klickt. Dies war bis vor einigen Jahren ein schwaches Argument. Inzwischen geht es um weit mehr: Google AdSense verbindet seit 2007 den „richtigen“ Content auf einem Blog oder einer seriösen Zeitung mit der „richtigen“ Werbung, die zu unserem persönlichen Erfahrungsschatz gehört. Da wird es schon etwas schwieriger, seine informationelle Selbstbestimmung und Freiheit zu erhalten.

Bei Facebook und anderen News-Stream-Anbietern (Twitter, LinkedIn, TikTok usw.) geht die Logik deutlich weiter: Wir bekommen nur noch den Content angeboten, der zu uns passt. Passen tut das, was zusammen mit der richtigen Werbung unser Verhalten in Richtung Kaufen (Wirtschaft) oder Wählen (Macht, Demokratie) beeinflusst. Der Kauf-Knopf kommt nur noch dann, wenn wir bereit sind zu kaufen. All dies berechnet der Anbieter mit Hilfe des individuellen Modells für jeden von uns persönlich.

Es wird klar, dass wir in dieser Welt unsere Autonomie und Freiheit verlieren bzw.  schon verloren haben. Und anders als die Weber 1844 merken wir nicht, was passiert. Wir haben zugelassen, dass andere über uns mehr wissen können als wir selbst. Wir haben zugelassen, dass diese anderen die Daten über uns monetarisieren dürfen. Wir haben zugelassen, dass wir manipuliert werden und uns unsere grundgesetzliche Freiheit und Unantastbarkeit in der digitalen Welt genommen wird.

Die zerstörerischen Folgen von ungeteiltem Wissen

Der Clou am Geschäftsmodell der Datensammler ist, dass sie ihren Kunden dieses Wissen nicht verkaufen. Denn wenn sie dieses Wissen verkaufen würden, könnte es danach ja auch von anderen genutzt werden und würde sich verteilen. Ein Berater verkauft sein gesammeltes Wissen und seine Erfahrung an seinen Kunden und verteilt dieses Wissen damit auch. Er monetarisiert einen Wissensvorsprung, verliert ihn über die Zeit und muss ständig investieren, um ihn zu erhalten.

Google, Facebook und Co. sammeln über unsere Daten das Wissen über unser Verhalten, und sie stellen diese Informationen als Nutzen den Werbekunden zur Verfügung. Der Werbetreibende zahlt für den richtigen Match, für die Beeinflussung, aber er erhält mit dem gezahlten Entgelt keinen Zugang zu dem Wissen von Google und Facebook. Das Profil über uns wird immer facettenreicher und besser. Da es nicht geteilt wird, wird es immer mächtiger.

Nicht jedes digitale Geschäftsmodell manipuliert uns und ist daher schlecht. Es ist ok, wenn der Mobilitätsanbieter Daten zu unserem Verhalten sammelt und diese nutzt, um sein Angebot in unsere Richtung zu optimieren. Es ist aus Sicht der heutigen Missstände sogar ok, wenn er Methoden einsetzt, um uns zu einer nächsten Fahrt zu überreden.

Aber es ist eben genau nicht ok, wenn ein Mobilitätsanbieter die über uns gewonnen Verhaltensdaten einem anderen zur Verfügung stellt und wir aufgrund dieses Wissensvorsprungs über unser Verhalten auf einmal zum Kauf von Schuhen oder Musik manipuliert werden. Und es ist nicht ok, wenn ein Mobilitäts-Anbieter Verhaltensdaten bei anderen einkauft, um seinen Dienst zu optimieren.

Und: es ist eben aus Prinzip nicht ok, wenn persönliche Verhaltens-Daten aus unseren Klicks auf News bei Facebook, LinkedIn oder großen Medienangeboten an andere verkauft werden.

Das Ende unserer Freiheit

Es ist eigentlich einfach, neue Regeln aufzustellen, damit wir unsere Freiheit in der digitalen Welt behalten können. Und zur Erinnerung: Gesetze und Verordnungen bestimmen wir selbst. Wir haben mit der französischen Revolution das Konzept des privaten Eigentums ersonnen und haben seitdem klare Regeln, warum ich mir als Stärkerer nicht einfach fremdes Eigentum aneignen kann.

Es ist frustrierend zu sehen, wie viele Menschen Angst und Unsicherheit vor der digitalen Welt verspüren und sich dieser Welt verschließen, nur weil Regierungen und Wirtschaftsverbände gegen dieses ganz klar freiheitsraubende Konzept der Verhaltensaggregation und Monetarisierung nicht durch das Aufstellen simpler Regeln und Gesetze vorgehen.

Es ist frustrierend zu sehen, wie andere digitale Entrepreneure und Unternehmer mit fairen as a Service-Geschäftsmodellen darunter leiden, weil Menschen nicht unterscheiden können, wer wie mit unseren Daten umgeht.

Es ist frustrierend, dass inzwischen unsere Wissenschaftler darauf angewiesen sind, Verhaltensdaten von Google und Facebook zu erhalten, um überhaupt mitreden und weiter forschen zu können. (Und damit indirekt den Missstand und Missbrauch manifestieren.)

Unsere persönliche Freiheit und Autonomie wird bestimmt durch das Maß an Daten, die anderen nicht bekannt sind – egal ob der andere unsere Staaten oder große Wirtschaftsunternehmen sind.

Unser gesamtes Gleichgewicht aus Wissen, Macht, Wissenschaft und Freiheit ist zerstört. Es wird Zeit, dass wir es wieder in Ordnung bringen.

Wer unsere persönlichen Verhaltensdaten hinter unserem Rücken sammelt, aggregiert und den Zugang dazu verkauft, ist keiner von den Guten. Auch wenn er uns kostenlose Mailkonten, eine wunderbare Suchmaschine oder ein großartiges soziales Netzwerk zum Kontakt mit Freunden und Verwandten zur Verfügung stellt.

Quelle: https://pixabay.com/de/photos/frau-modell-sonnenuntergang-5561498/
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