Wie wollen wir unsere Individualität verteidigen?

26. November 2020

Dass das Sammeln und Auswerten unserer Daten durch große Konzerne keineswegs harmlos ist, sollte inzwischen jeder verstanden haben. Shoshona Zuboff prägt in ihrem Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus den Begriff Überwachungskapitalismus. Sie möchte sensibilisieren für die Auswirkungen der Daten-Akkumulation. 

Mit Daten, konkret unseren eigenen persönlichen Verhaltensdaten, wird ein Markt geschaffen. Hierfür kennen wir schon den Begriff des Datenkapitalismus. Doch die Analogie der beiden Begriffe hinsichtlich ihrer Folgen kann zu einer falschen Einschätzung führen. Denn auch im Überwachungskapitalismus wird Kapital akkumuliert und nicht nur unsere Daten.

An vielen Stellen des Buches wird klar, dass es Shoshana Zuboff neben der wissenschaftlich fundierten Analyse auch um eine ideologische Verurteilung der Überwachungskapitalisten geht. 

Aus Sicht von Zuboff befinden wir uns schon längst in einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nach dem Kapitalismus: diese neue Ordnung ist datengetrieben und wir müssen gegen sie ankämpfen wie die Arbeiter zu Beginn der Industrialisierung, um unsere Freiheit nicht zu verlieren. Es ist der Aufruf und die Suche nach neuen Formen von „Gewerkschaften“, „Mitbestimmung“ oder „Arbeitsrechten“ gegen die aktuelle Bedrohung durch den Überwachungskapitalismus.

Genau dieser ideologische Impetus macht das Werk angreifbar und hat bei mir an vielen Stellen Unverständnis geweckt. Dennoch sind die Kerngedanken und Thesen fundierter recherchiert und besser herausgearbeitet als bei den meisten anderen Google-Hassern.

Verhaltens-Profile und Manipulation

Shoshana Zuboff zeigt detailliert auf, wie Google und Facebook mit nahezu unendlicher Skalierung unser Verhalten aus Daten extrahieren. Diese Daten nutzen die Konzerne über die Bildung von Profilen zu Vorhersagen bei Kauf- oder Wahlentscheidungen und monetarisieren sie darüber hinaus. Google und Facebook beeinflussen damit nicht nur unser Kaufverhalten, sondern eben auch das Wahlverhalten. Sie ordnen und bestimmen damit Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

Diese Beeinflussung hat die Grenze zur Manipulation längst überschritten, weil unsere Kontextinformationen, die wir zur Bildung von Entscheidungen benötigen, ebenfalls von Google, Facebook und Co. beeinflusst, verändert und bestimmt werden.

Damit geht die Beeinflussung weit über die der klassischen Werbung hinaus; mehr noch: es ist ohne jeden Zweifel eine weltweite und milliardenfache Manipulation. Die Details zu Zuboffs Argumentation sind umfassend, detailliert und nachvollziehbar. 

Von Individualität und Freiheit …

Shoshana Zuboff beschäftigt sich aber auch mit dem Kern unseres Menschseins. Das Recht auf Freiheit wird häufig missinterpretiert: wir benötigen aus ihrer Sicht vor allen Dingen ein Recht zur freien sozialen Entfaltung und zur Beeinflussung unserer sozialen Umgebung. Dürfen wir wirklich Individualität mit Freiheit gleichsetzen?

Aus ihrer Sicht nicht: Denn in der Individualität kommt neben der Selbstbestimmung auch das Soziale der Mitmenschen zum Ausdruck. Individualität hört da auf, wo es die Freiheit oder Individualität meines Gegenübers einschränkt oder sogar nur berührt. Individualität ist die eigene Selbstbestimmung unter Berücksichtigung der Individualität anderer.

Freiheit kann technisch nur entstehen, wenn Nicht-Wissen oder Nicht-Beobachtet-Werden stattfindet. Das gilt für Freiheit in den eigenen vier Wänden, Versammlungsfreiheit und auch für alle möglichen anderen Formen von Freiheit. Wenn wir in allen Situationen von technischen Systemen beobachtet und beeinflusst werden, verlieren wir immer weitere Bereiche unserer Freiheit.

Wenn dann nur noch die Freiheit einem anderen Individuum gegenüber bleibt, dann haben wir die soziale Verantwortung uns selbst und anderen gegenüber verletzt. 

… und warum wir ein neues Verständnis davon brauchen

Unsere persönliche Freiheit und Autonomie werden bestimmt durch das Maß an Daten, die dem anderen nicht bekannt sind: Egal ob Staat oder Google.

Unsere Autonomie ist unser Wille zum Wollen, also die letzte Instanz, selbst unser Handeln zu beeinflussen. Und genau diese Autonomie wird immer kleiner. Und in manchen Bereichen verschwindet sie ganz, wenn wir von Systemen zur Extraktion unserer Verhaltensdaten wie Alexa, Kameras oder Facebook umgeben sind.

Um all das neu zu regeln, benötigen wir ein neues Selbstverständnis von Autonomie, Freiheit und Individualität: Wir müssen begreifen, dass Freiheit nicht gleich Individualität ist. Wir müssen begreifen, dass Individualität nur möglich ist, wenn man die Reaktion der anderen mit einbezieht. Und wir müssen anerkennen, dass Freiheit nur das ist, was andere nicht über uns wissen. Und wahrscheinlich müssen wir auch lernen anzuerkennen, dass Individualität wichtiger ist als die Freiheit bis in den letzten Aspekt.

Wissensteilung – essentielles Ordnungskriterium für unsere Gesellschaft

Spannend fand ich auch die Gedanken zur Wissens- und Informations-Gesellschaft. Zuboff sieht die Arbeitsteilung mit all ihren positiven wie negativen Aspekten als Grundprinzip und Treiber hinter der Ideologie des Kapitalismus. Für sie ist die Wissensteilung das übergeordnete Ordnungskriterium unserer Zeit. Und die Kontrolle darüber schafft Gestaltungsräume oder beschränkt Individuen und Wirtschaftsteilnehmer.

Bei Google und Facebook werden die gewonnenen Verhaltensdaten exklusiv und geheim durch die Unternehmen bewirtschaftet. Bei Universitäten wird Wissen gewonnen und der Gesellschaft über Veröffentlichungen zur Verfügung gestellt. Bei Patenten gewährt der Staat monopolartigen Schutz. Wir müssen uns also damit beschäftigen, wie wir in Zukunft Wissen und Wissensflüsse steuern und regeln.

Wir können nur hoffen, dass wir neue Regeln finden und aufstellen, die das Sammeln von Verhaltensdaten und die Anlage von Profilen über uns in Zukunft untersagen.

Die Crux mit den Verhaltens-Modellen

Die Ausflüge in die Konzepte des Totalitarismus und des Instrumentalismus sind ebenso spannend wie die Erläuterungen zu ihrem Lehrer B.F. Skinner und dem Behaviorismus. Wirklich fasziniert hat mich ihre Untersuchung des wissenschaftlichen Beobachtungskonzeptes im Rahmen des Behaviorismus. Im Rahmen der wissenschaftlichen Ausbildung ist es für uns normal, dass wir andere Dinge und auch Lebewesen beobachten und daraus unsere Modelle ableiten und aufstellen. 

Aber was genau passiert durch diesen Prozess? Wir stellen uns über das Ding, das wir beobachten. Wir machen es zum Es. Das mag bei Tieren noch ok sein, aber was genau geschieht, wenn wir Menschen beobachten? Bei der wissenschaftlichen Beobachtung von Menschen machen wir auch diese zum Es. Wir schließen die Beobachteten während der Beobachtungsphase vom Menschsein aus. Wir bauen ein Modell. Und irgendwann nach dem Experiment sind dann wir alle Teil des Modells. 

Mit immer genaueren Verhaltens-Modellen können wir immer mehr von unserem Verhalten vorhersagen. Als wissenschaftlich gebildete Menschen wissen wir auch, dass wir für unsere Modelle Randbedingungen haben. Und genau diese können wir dank individueller Timelines und Nachrichten-Feeds immer genauer formen und steuern. Und damit unser Bewusstsein, unser Menschsein, unsere Autonomie immer weiter einengen und verkleinern. 

Wie weit wollen wir dabei gehen? Kein anderes Buch hat mich bei diesen Gedanken so weit gebracht.

Der ideologische Einschlag hat mich an vielen Stellen genervt. Aber die Zusammenhänge, die Shoshana Zuboff herstellt, sind atemberaubend, schrecklich und faszinierend zugleich. Jetzt müssen wir darüber diskutieren und festlegen, an welchen Stellen wir unsere Regeln und Gesetze ändern wollen, wenn wir nicht in der Gesellschaftsordnung des  Überwachungskapitalismus leben wollen.

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Shoshana Zuboff
Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus
Campus-Verlag, 727 Seiten, 29,95 Euro
Kindle-Ausgabe 25,99 Euro

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