Wohin führt uns die totale Abkehr von Russland?

21. April 2022

Viele Jahre haben wir als Deutschland daran geglaubt, mit Handel und Gesprächen Kriege verhindern oder lindern zu können. Wenn andere Staaten Waffen geliefert haben, dann haben wir seelischen Beistand geleistet.

Mit Gesten und Kommunikation haben wir Sühne geleistet für unsere Missetaten im ersten und zweiten Weltkrieg. Egal ob Willi Brandt oder Helmut Kohl: wir haben Kommunikations-Brücken gebaut, um Beziehungen wieder in Gang zu bringen und zu ermöglichen, die durch Kriege und Hass unterbrochen worden sind.

In der Flüchtlingskrise vor ein paar Jahren haben wir heftig diskutiert und gerungen, haben uns einen Ruck gegeben und der Moral zum Sieg verholfen. Unsere Rolle als Moral-Helden konnten wir dann leider international nicht richtig genießen, weil ein Teil der Nationen, die sich rationaler und vernünftiger verhalten haben, uns unseren moralischen Zeigefinger als überheblich und weltfremd übel genommen haben.

Der Fehler von uns als Nachkriegs-Generationen war es, dass wir gedacht und gehofft haben, als geopolitisches Neutrum leben zu können. Heute wissen wir es besser. Das ist die erste wahre Erkenntnis des Ukraine-Krieges für uns.

Wir sind eine zu große Nation, können nicht nur die Augen verschließen und uns auf der weltpolitischen Bühne hinter dem Vorhang aufhalten. Wir sind zu viele Menschen, eine zu starke Volkswirtschaft, exportieren zu viel, um einfach keine Position beziehen zu können.

Eine reale Diskussion über Gas

Wieso reden die Angstmacher in unseren Reihen nicht darüber, dass Putin uns den Gashahn sicher nicht kurzfristig abdrehen wird, weil er damit nicht nur eine Einnahmequelle für Russland kappt, sondern auch die dazu notwendige Förderinfrastruktur teilweise zerstören würde? Ein Gasfeld hat keinen einfachen Absperrhahn wie ein Ölbohrloch. Es bilden sich Pfropfen.

Und wieso reden wir nicht darüber, dass wir bei einer Unterbrechung der Versorgung aktuell davon ausgehen können, dass ein Teil unserer Chemie-Infrastruktur beschädigt wird? Unsere Chemiewerke sind auf Dauerbetrieb ausgelegt. Wir können davon ausgehen, dass bei einer realen Unterbrechung der Versorgung – egal ob von uns oder Putin initiiert – große Vermögenswerte in Form von Infrastruktur ruiniert werden, deren Neu-Aufbau Jahre dauern würde.

Wieso sprechen wir als Gesellschaft nicht zuerst darüber, mit welchem Plan wir das russische Gas substituieren?

Es ist davon auszugehen, dass wir dabei auf ebenso viele Energie-Experten mit sehr unterschiedlichen Meinungen treffen werden wie seit zwei Jahren auf gut ausgebildete Virologen, die sich lieber in der Öffentlichkeit zerfleischt haben, anstatt sich auf ein einheitliches Vorgehen zu einigen.

Die konkreten langfristigen Auswirkungen für unsere Wirtschaft werden beim Thema Gas-Substitution wahrscheinlich noch größer sein als bei Covid. 

Wie arrogant oder inkompetent muss man sein, davon auszugehen, dass unser Wohlstand ewig währt und wir jede Krise und Fehlentscheidung unseren Folgegenerationen mit aus der Zukunft geliehenem Geld aufbürden können? Kernenergie-Ausstieg, die erste Welle der Solarförderung, Finanzkrise, Kohle-Ausstieg, Flüchtlinge, Covid: überall wollen wir mit unserem Gutmenschentum keinen Menschen, keinen Baum und kein Unternehmen untergehen lassen und lieber bezahlen, als eine Diskussion wirklich mal zu Ende zu führen. Mit unserem Wohlstand von morgen bezahlen wir unsere heutige Verantwortungslosigkeit, das ist unser Konzept.

Den Fehler einer zu großen Abhängigkeit und fehlender Redundanzen bei unserer Gasversorgung haben Politiker und Lobbyisten vor vielen Jahren gemacht. Damit müssen wir alle jetzt leben und die Verantwortung dafür tragen. Eine neue Schuld auf uns nehmen. An der Umwelt, an den Ukrainern.

Da nützt uns kein Stammtisch-Geschwafel, dass Deutschland Kante zeigen soll und muss und wir ruhig im Winter ein wenig frieren können. 

Frieden schaffen ohne Waffen

In den 1970er Jahren haben viele gegen die Kriege protestiert, die die Amerikaner auch zu unserem Vorteil geführt haben. In den 1980er Jahren dachten viele, den kalten Krieg beenden zu können, indem wir keine weiteren Atomwaffen mehr in Deutschland stationieren.

Heute hoffen wir als Gesellschaft darauf, Russlands Krieg gegen die Ukraine mit entschlossener Embargo-Politik und Selbstverstümmelung erträglicher machen zu können.

  • Keine Materialien und Bauteile nach Russland zu exportieren, die man auch nur im Entferntesten zur Kriegsunterstützung verwenden kann. OK.
  • Was genau ist die Botschaft, wenn wir keine Coca-Cola oder Ritter Sport Schokolade mehr an Russen verkaufen und sie von McDonalds befreien? Wer bestraft hier wen?
  • Und was genau ist die Botschaft, wenn wir durch ein kurzfristiges Gas-Embargo vor allen Dingen unsere eigene Wirtschaft auf viele Jahre schwächen?

In diesen Wochen scheint ein Ruck durch unsere Gesellschaft gegangen zu sein. Auf einmal sind wir bereit, uns unserer geopolitischen Verantwortung zu stellen. Wir wollen wieder in unsere Bundeswehr investieren. Was sich daraus genau entwickeln wird, ist aktuell unklar. Aber eine Bewegung über die meisten politischen Parteien hinweg hat es gegeben.

Wir haben verstanden, dass wir in der Realität international keine wirklich eigene Position mehr vertreten können. Deutschland ist zwar eine Wirtschaftsmacht, aber keine militärische. Um Frieden sichern und erhalten zu können, benötigt man international eben auch ein Droh-Potenzial.

Leider haben wir uns auch auf dieser Ebene vor langer Zeit in eine Situation gebracht, in der wir befreundeten Staaten wie der Ukraine faktisch keine Waffen liefern können, weil wir einfach keine haben. Daran können wir in den nächsten Monaten mit kurzfristiger Symbolik nichts ändern. Auch mit dieser Schuld werden wir noch mehrere Jahre leben müssen.

Unsere aktuelle Entscheidung: Die konsequente Abkehr von Russland

Nachdem wir als deutsche Bürger also viele Jahre lang inkonsequent waren und damit Schuld auf uns genommen haben – sowohl moralisch als auch in konkreter Form von Schulden, die unsere Kinder bezahlen müssen – wollen wir jetzt endlich konsequent sein und alle Brücken nach Russland abbrechen? Ja!

Keine deutsche Firma soll noch mit Russland handeln dürfen, egal wie banal die Produkte sind. Für Amerikaner ist es einfach danach zu rufen und einen Boykott von uns zu fordern. Sie leben auf einem anderen Kontinent. Russland gehört bis zum Ural zu Europa. Es ist ein natürlicher Handelspartner auf demselben Kontinent. Wir haben dieselbe Kultur als Wurzel.

Wir sollen jetzt also russische Kultur boykottieren? Sport darf aus Prinzip nicht mehr wie beim olympischen Gedanken als verbindendes Element gelten. Alles muss boykottiert werden. Ein Schelm, wer nicht erkennt, wem diese Haltung geopolitisch vor allem nutzt.

Offensichtlich sind wir ein Volk realitätsferner Träumer. Erst verkennen wir für Jahrzehnte die Realität und rennen dem Frieden hinterher, und nun wollen wir mit deutscher Präzision alle Brücken nach Russland, einem Land auf unserem Kontinent niederreißen?

Es ist doch offensichtlich, dass wir hier wieder Schuld auf uns nehmen und undifferenziert in eine Falle tappen. Es wird eine Zeit nach Putin geben. 

Unsere Handlungsunfähigkeit und die Ohnmacht, nicht wirklich helfen zu können, entspringen eigenen Fehlern. Und die können wir nicht mit operativer Hektik in Form eines totalen Verbindungsverbotes für Wirtschaft, Kultur und Sport kurzfristig reparieren.

Was uns fehlt, ist eine Strategie und ein Leitbild für unsere Rolle in der Welt

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt darüber nachzudenken, wie unsere aktive nachhaltige Rolle in einer zukünftigen Welt aussehen muss. Wir brauchen zuerst eine Strategie.

Ein ganzes Volk zu verurteilen, nur weil seine Führung inakzeptabel ist, das ist doch eine Situation, die wir als Deutsche verstehen sollten. Und ja, eine Führung besteht aus mehr als einer Person, aus vielen, die das System mittragen und aus Sympathisanten. Auch das kennen wir.

Deutsche Unternehmen und Unternehmer zu verurteilen, die vielleicht zu einem Teil nicht durch ein totales wirtschaftliches Embargo auf alle ihre Assets verzichten wollen, aber zu einem anderen Teil sicherlich auch an die Menschen denken, die dort in Russland für sie arbeiten, das ist unfair und kurzsichtig.

Wir diskriminieren heute lieber Russen, die in Deutschland leben, als nachzudenken und ein differenziertes Bild der Situation aufzubauen. Ein klares Feindbild ist so einfach und bedarf keiner differenzierten Auseinandersetzung.

Wir rufen heute lieber zum Boykott gegen deutsche Unternehmer und Unternehmen auf, die sich nicht sofort und ohne nachzudenken dem Aufruf zum Abbruch aller Beziehungen unterwerfen und ein differenziertes Bild schaffen. Wir wollen es einfach haben.

Wollen wir, dass wir Deutschen in Zukunft überall als unzuverlässig und illoyal gelten und niemand mehr mit uns handeln oder sprechen möchte? Zuletzt haben wir das die Menschen in Afghanistan eindrucksvoll gelehrt, gerade sind wir dabei, dies auch den Menschen in Russland zu vermitteln.

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion über unsere Position in und mit Europa und in der Welt. Diese Krise könnten wir als Chance begreifen, unsere Fehler der letzten Jahre aktiv aufzuarbeiten. Haltung erfordert mehr als reine mitmenschliche Solidarität. Wir haben uns in den letzten Jahren mit vielem und mit vielen solidarisch gezeigt. Das war deshalb so einfach, weil wir keine eigene Position hatten, weil wir uns in unserer Neutrum-Rolle so gut gefallen haben. Wir haben jetzt die fast einmalige Chance für einen Neustart – lasst sie uns nutzen!

Die Schmach ertragen ohne neue Torheiten zu begehen

Und in der Zwischenzeit müssen wir die Schmach ertragen, wegen unserer Fehler der letzten Jahre keinen aktiven Lösungsbeitrag zu diesem Konflikt leisten zu können.

Wir müssen es ertragen, wenn man uns beschimpft, den russischen Krieg zu finanzieren und dennoch alles tun, dies möglichst schnell über die nächsten Jahre zu ändern mit einer neuen Energiepolitik. Und wir müssen vielleicht auch über den einen oder anderen Schatten springen und nochmal über bisher politisch Unmögliches nachdenken.

Und wir müssen es ertragen, keine Waffen und keine reale Unterstützung für die Ukrainer liefern zu können, weil wir diesen Bereich über viele Jahrzehnte aufgrund unseres Neutrum-Traumas aktiv vernachlässigt haben.

Aber wir müssen keine neuen Torheiten begehen und alle Beziehungen zu Russland abbrechen.

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